· 

Der goldene Weg zwischen "Social Distancing" und "Social Living"

Seit März 2020 bestimmt die Corona-Pandemie unser Leben. Das Gebot der ersten Stunde: Soziale Kontakte reduzieren, um dem Virus weniger Chancen zur Ausbreitung zu geben und sich selbst zu schützen. Das fiel einigen Menschen zu Beginn der Krise ziemlich schwer. Es war nicht leicht, diese Personengruppe hilfreich zu unterstützen, denn oft waren Online-Angebote keine wirkliche Alternative und die Lücke bei den Betroffenen konnte nicht gefüllt werden. Inzwischen wird es den meisten Menschen wieder besser gehen, denn auch wenn die Pandemie noch andauert, so ist doch wieder einiges mehr möglich: Kino, Restaurant, Freunde treffen, Sport - all das geht unter Beachtung bestimmter Regeln wieder. 

Eine andere Gruppe fiel zunächst kaum auf: Nämlich diejenigen, die mit dem Rückzug aus dem sozialen Leben keine Schwierigkeiten hatten, die sich auch alleine bzw. innerhalb ihrer Familie gut beschäftigen konnten und sich dort aufgehoben und sicher fühlten. Nun aber mehr als 18 Monate nach Beginn der pandemischen Lage in Deutschland sind viele Menschen dieser Personengruppe weiterhin aus dem sozialen Leben verschwunden. Einige von ihnen haben wohl entdeckt, dass sie auch gut allein sein können, andere hingegen, und um diese Gruppe dreht sich die Sorge derzeit, haben das Interesse am sozialen Miteinander vollständig verloren und/oder sozial-phobische Tendenzen entwickelt: Die Begegnung mit anderen Menschen außerhalb der eigenen vier Wände macht ihnen Angst, sie fühlen sich möglicherweise sogar von ihnen bedroht, können sich in sozialen Bezügen nicht mehr verorten und erleben eine große Selbstunsicherheit.

  

Experten sprechen dabei vom "Cave-Syndrom", zu deutsch Höhlen-Syndrom. Dabei handelt es sich zunächst nicht um eine pathologische Erkrankung, sondern eher um eine vorübergehende Anpassungsreaktion, so der Psychologe Ulrich Stagnier. Vor allem bei Menschen, die bereits vorher zu sozial-phobischen Verhalten oder Depressionen neigten, kann es sich allerdings manifestieren und zu einem pathologischen Krankheitsbild werden. Seinen Einschätzungen nach könnten davon ca. 5% der Menschen betroffen sein. Auffällig ist, dass vor allem junge Menschen zu diesem Personenkreis gehören, denn Kinder und Jugendliche wurden von den Einschränkungen mitten in der prägenden Phase ihrer Identitätsentwicklung besonders getroffen. Der persönliche Reifeprozess ist sehr stark von sozialen Faktoren abhängig: Rückmeldungen durch Freunde und Mitschüler*innen, Erfahrungen und Erlebnisse mit Gleichaltrigen, Konflikte erleben und bewältigen in Schule und Freizeit uvm. Wenn all das nicht stattfinden kann, fehlt es an wichtigen Erfahrungsgrundlagen. Demnach ist es auch nur verständlich, dass viele Kinder und Jugendliche sich nun extrem überfordert fühlen, am sozialen Leben wieder teilzunehmen: Ihnen fehlt einerseits schlichtweg die Praxis mit anderen Menschen in sozialer Interaktion zu sein und andererseits fehlen Rückmeldungen, die zum Aufbau eines soliden Selbstwertgefühls beitragen. 

Aber auch Erwachsene sind von diesem Phänomen betroffen und haben Mühe, alte Fäden aufzunehmen und sich aus dem Home-Office wieder an den Arbeitsplatz zu begeben, statt Online-Sport sich wieder in der Gruppe zu zeigen. Einige von ihnen zwingen sich, andere entwickeln kreatives Vermeidungsverhalten oder lassen sich krankschreiben.

 

Vom Cave-Syndrom betroffene Personen bedürfen der Unterstützung, diese Form der erlernten oder antrainierten Angst wieder zu relativieren und einen Mittelweg zwischen sozialem Rückzug zum Schutz vor Ansteckung und sozialen Kontakten zur Teilhabe am Leben zu finden. Dabei können kognitive Umstrukturierungsprozesse und einfache positive Erfahrungen im sozialen Kontext unterstützend sein. Bei jeder Form von Angst geht es letztlich darum, das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle wiederherzustellen. Dazu sollte man sich die Ausprägung der Angst detailliert anschauen. Auf dem Weg kann eine professionelle Begleitung durch Psychotherapeuten, Beratungsstellen o.ä. hilfreich sein.

 

Solltest du jemanden kennen, der Verhalten zeigt, das den Beschreibungen des Cave-Syndroms ähnelt, hab ich hier 3 erste goldWERT-Tipps zur Unterstützung der Person für dich: 

 

1. Interesse zeigen ohne Verhalten zu bewerten!

Sich wirklich für einen Menschen zu interessieren, ist eine herausfordernde Aufgabe. Denn es geht dabei vor allem darum, Fragen zu stellen statt Ratschläge zu geben. Sich für jemanden interessieren, heißt zuzuhören und Gesagtes wahrzunehmen ohne es zu bewerten! So kann eine Vertrauensbasis entwickelt werden und vielleicht die Chance für weitere Unterstützung erhöht werden. 

 

2. Unterstützung anbieten und kleine Schritte würdigen!

Wichtig ist es, Schritt für Schritt vorzugehen. Jemand, der über viele Monate soziale Kontakte (außerhalb der Familie vermieden hat), wird nicht direkt in ein volles Restaurant oder ins Kino gehen wollen. Was ist der erste kleine Schritt? Und wenn es ein Spaziergang von 15 Minuten ist - es ist ein erster kleiner Schritt! 

 

3. Positive Erfahrungen schaffen 

Der leichteste Weg altes Verhalten durch neue Muster abzulösen, sind gute Erfahrungen, wenn man sich etwas getraut hat. In diesem Fall sind es positive Beziehungserfahrungen. Sollte dir deine Freundin/ Bekannte/ etc. nun trotz all deiner Mühe kurzfristig wieder absagen,  darfst du enttäuscht sein, aber zeig vor allem auch Verständnis und vereinbart ein neue oder alternative Verabredung. Liebevolle Hartnäckigkeit kann einer großer Wirkfaktor sein! 

 

Aus welcher Perspektive du diesen Artikel auch gelesen hast, Betroffener oder Unterstützer: Du bist goldWERT!

Komm gut durch den November!

Herzlichst 

Svenja Lotze 

 

Solltest du weitere Fragen zum Cave-Syndrom haben oder selbst Unterstützung suchen, bin ich meiner Praxis gern für dich da! Nimm ganz unverbindlich Kontakt zu mir auf.