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Die Nuancen der Psyche: Wann gilt jemand als psychisch krank, wie werden Diagnosen gestellt und was bedeutet psychische Gesundheit?

Zunächst einmal: Die Frage, ob eine eine psychische Erkrankung vorliegt, ist komplex und von kulturellen, sozialen und medizinischen Faktoren abhängig. Kulturelle Unterschiede prägen die Wahrnehmung psychischer Gesundheit: Was in einer Kultur als normales Verhalten gilt, kann in einer anderen als ein Anzeichen von psychischer Instabilität betrachtet werden. Ebenso spielen soziale Normen und Erwartungen an Verhalten bei der Beurteilung, ob jemand an einer psychischen Erkrankung leidet, eine enorme Rolle. Und ganz wichtig: Soziale Faktoren, wie Beziehungen, Arbeitsplatz und Gesellschaft können sich positiv oder negativ auf die psychische Gesundheit auswirken und damit bereits vorhandene Symptome und Dispositionen verstärken. 

 

Aus medizinisch-psychiatrischer Sicht handelt es sich bei psychischen Erkrankungen um diagnostizierbare Erkrankungen, ähnlich wie ein gebrochenes Bein oder ein Schlaganfall. In Deutschland wird für die Diagnose einer psychischen Erkrankung das Internationale Klassifikationssystem (ICD) herangezogen. Auf dieser Basis werden die Symptome aus den Bereichen Denken, Fühlen und Erleben eingeordnet und mit verschiedenen Krankheitsbildern abgeglichen. Dabei wird berücksichtigt, inwiefern die Symptome Auswirkungen auf das tägliche Leben haben, z.B. ob Betroffene aktuell in der Lage sind, einer Arbeit nachzugehen, ob sie sich in Beziehungen engagieren und/oder ob sie ihren Alltag bewältigen können und seit wann die Veränderungen bestehen:

  • Verändertes Gefühlserleben: Wie erlebt der Betroffene seine Gefühle? Kann er seine Gefühle benennen oder hat er eher keinen Zugang zu seinem Gefühlserleben? Sind die Gefühle stark und intensiv? Kennt die Person die Ursachen für ihre Gefühle?  
  • Verändertes Denken: Welche Gedanken gehen dem Betroffenen durch den Kopf? Sind diese immer gleich? Hängt der Betroffene in (negativen) Gedankenschleifen fest? Kann sich die Person konzentrieren? Wenn ja, kostet das Mühe und Anstrengung? 
  • Verändertes Verhalten: Tut die betroffene Person aktuell Dinge, die sie sonst nicht tun würde oder gibt es womöglich bereits aus dem sozialen oder beruflichen Umfeld Rückmeldungen, dass die Person sich verändert hat? Auch ein Verheimlichen von Verhalten kann ein Hinweis darauf sein, dass etwas nicht in Ordnung ist.
  • Veränderungen im Körper: Kraftlosigkeit? Erschöpfung? Tatendrang und kein zur Ruhe kommen? Auch Schmerzen im Körper, für die es keinen medizinischen Grund gibt, können ein Anhaltspunkt für eine psychische Erkrankung sein. 
  • Zeitliche Komponente: Seit wann gibt es diese Veränderungen?
  • Alltag: Wie bewältigt der Betroffene aktuell seinen Alltag? 

Diese Frage, ob jemand psychisch krank ist, ist zunächst vollkommen nachvollziehbar, denn die Antwort darauf kann für viele Betroffene eine Erleichterung sein: Das, was sie erleben, hat einen Namen, was wiederum bedeutet, dass sie mit ihrem Erleben nicht alleine sind und dass es Hilfe gibt, um die Erkrankung zu überwinden. Manchmal allerdings kann diese Frage (noch) nicht mit einem eindeutigen JA beantwortet kann, weil möglicherweise nicht alle Diagnosekriterien für eine psychische Erkrankung erfüllt sind. Und trotzdem kann es einen Handlungsbedarf geben und professionelle Hilfe erforderlich machen. Dafür ist einzig der subjektive Leidensdruck entscheidend: Wer einen Veränderungswunsch hat, sollte  Hilfe bekommen, unabhängig von einer Diagnose. Hilfen und Unterstützungsangebote können sehr individuell sein und sind vor allem davon abhängig ist, was der Patient ändern möchte und wo er hin will. Für den einen sind Coachings oder Selbsthilfegruppen das richtige Tool, andere wünschen sich eine psychotherapeutische Begleitung.

 

Übrigens, hier noch 3 Fakten rund um das Thema psychische Gesundheit und psychische Erkrankungen: 

  1. Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland zählen übrigens Angst- und Panikstörungen, affektive Störungen wie zum Beispiel Depressionen, und Suchterkrankungen. 
  2. Die meisten Menschen mit einer Disposition für psychische Erkrankungen erleiden in ihrem Leben nur eine Episode, andere erkranken im Verlauf ihres Lebens mehrfach. Nur ein ganz geringer Teil leidet anhaltend an einer psychischen Erkrankung. 
  3. Die Weltgesundheitsorganisation antwortet auf die Frage, wer eigentlich noch gesund ist, wie folgt: Wer sich (dauerhaft) in einem "Zustand des Wohlbefindens (erlebt), in dem er sich seiner eigenen Fähigkeiten bewusst ist, die normalen Belastungen des Lebens bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten kann", ist psychisch gesund und frei von psychischen Gesundheitsproblemen. Diese Antwort lässt zu Recht die Frage aufkommen, wer das dauerhaft von sich behaupten kann? Es macht also sehr schön deutlich, dass wir alle dann und wann eine Episode psychischen Unwohlbefindens erleben können und sich dieses Unwohlbefinden auch als Erkrankung manifestieren kann. 

Ich hoffe sehr, dass dieser Artikel dazu beigetragen hat, darüber aufzuklären, dass psychische Erkrankungen genau wie körperliche Erkrankungen bestimmten Diagnosekriterien unterliegen und nicht willkürlich getroffen werden. Sie sind keinesfalls selbst verschuldet, sondern immer in einem Gesamtzusammenhang des menschlichen Erlebens zu betrachten. Unabhängig von einer Diagnose: Wer subjektiv einen Leidensdruck hat, hat auch ein Recht auf Begleitung in seinem  Veränderungs- und Genesungsprozess. 

 

Solltest du beim Lesen dieses Artikels gemerkt haben, dass es auch bei dir Veränderungen gibt, mit denen du dich nicht wohlfühlst, möchte ich die ermutigen, dir professionelle Hilfe zu suchen. Im ersten Schritt könntest du mit deinem Hausarzt sprechen, dich an Kontaktstellen für psychische Erkrankungen wenden oder dich natürlich auch gerne mit mir in Verbindung setzen. 

 

Alles Liebe für dich! 

Herzlichst 

Svenja Lotze